Produktabwahl versus Produktauswahl

13. Dezember 2020 11:59 Uhr  |  Dr. Ulrich Kampffmeyer  |  Permalink


Das Thema „Produktauswahl“ ist bei allen technisch anspruchsvollen, komplexen und kostenspieligen Lösungen relevant. Es gilt die Anforderungen konkret zu definieren, Bewertungskriterien und Bedingungen festzulegen, Angebote einzuholen und zu vergleichen um letztlich zu Entscheidungsvorlagen und Verträgen zu gelangen. Für bestimmte Branchen, wie z.B. die Öffentliche Verwaltung, ist dies gesetzlich vorgeschrieben. Aber auch in der freien Wirtschaft geben Compliance- und Governance-Regularien die Einholung mehrerer Angebote vor einer Beschaffung vor. Unter den Gesichtspunkten, die beste und günstigste Lösung zu beschaffen und zugleich gegen „Vetternwirtschaft“ und Korruption einen Riegel vorzuschieben, ist ein geordnetes, nachvollziehbares Produktauswahlverfahren sinnvoll.

Auch die Beratungsunternehmen der Information-Management-Branche profitieren hiervon. Elektronische Archivierung ist eine langzeitige Bindung an Technologie und Formate; Workflows verändern Prozesse und Arbeitsweisen im Unternehmen; die elektronische Akte nimmt den MitarbeiterInnen das gewohnte Papier weg. Informationsmanagement bedeutet massive Veränderung gewohnter Verfahren und führt häufig zu sehr komplexen Lösungen, die kritische, unternehmensweite Auswirkungen haben. Für die Planung, Auswahl und Einführung solcher Lösungen werden häufig erfahrene Berater hinzugezogen, um den Veränderungsprozess gestalten zu können. Spezialisierte Beratungsunternehmen der Informationsmanagement-Branche wie BARC, Zöller & Partner, Pentadoc, B&L, PROJECT CONSULT und zahlreiche andere haben hierfür standardisierte Verfahren entwickelt, die sich bewährt haben. Längst ist das Thema aber nicht mehr exklusives Wissen dieser Spezialisten, da sich auch alle großen Unternehmens-, Management- und Systemberatungen des Themas angenommen haben und ebenfalls Beratung zu Konzeption und Auswahl anbieten. Die kleinen Spezialisten haben sich daher auf Herstellerunabhängigkeit und Knowhow für bestimmte Branchenanforderungen verlegt um gegen den Druck der Großen bestehen zu können. Aber es ist nicht der Wettbewerb allein. Informationsmanagement-Lösungen wie ECM Enterprise Content Management, BPM Business Process Management, Records Management, Elektronische Archivierung, Scanning, eAkte, Collaboration und DM Dokumentenmanagement sind matur und der Markt der Anbieter hat sich in den letzten Jahren konsolidiert. Es gibt viele erfolgreiche Referenzen. Und so gehen viele Anwender dazu über, selbst ohne externe Unterstützung sich dem Thema Produktauswahl hinzugeben: „es gibt ja genug Muster im Internet zu finden“. Dies wird noch verstärkt durch Webseiten, wo man sich die Shortlist geeigneter Anbieter einfach mit ein paar Klicks zusammenstellen lassen kann.

Es gibt aber noch drei weitere wichtige Gründe, warum sich das Thema „Produktauswahl“ verändert hat.

Zum einen liefern die Anbieter von kommerzieller Software mit ihren Produkten für PLM, HR, ERP, FiBu, WaWi etc. immer mehr Funktionalität und Komponenten mit, die früher nur Bestandteil spezieller Lösungen wie ECM Enterprise Content Management waren. Hierzu gehören die revisionssichere Archivierung, Dokumentenmanagement, Workflow, Collaboration und weitere. Das Erfassen von Dokumenten mit Apps auf beliebigen Geräten, selbst die automatische Klassifikation, der Anzeigen von Informationen und Sammlungen sind längst Allgemeingut und zum Teil auf Betriebssystem-Ebene angekommen. Man muss für viele Aufgaben des Informationsmanagements nicht mehr spezielle Software anschaffen. Die Produktauswahl entfällt ganz oder ergibt sich aus der Wahl der gewünschten Unternehmenssoftware und Betriebsumgebung.

Durch die Cloud und besonders SaaS-Lösungen, vorkonfigurierte Systeme als Software as a Service, hat sich ebenfalls das Thema Produktauswahl verändert. Die Integration in eigene Anwendungen ist nur durch vorgegebene standardisierte Schnittstellen möglich und eine Konfiguration auf die eigenen Bedürfnisse nur eingeschränkt. Für viele langt dies. Beim Information Management reicht die Spannweite von einfach Speicherlösungen über EFSS Enterprise File Sharing & Synchronisation mit Werkzeugen wie Box, Dropbox etc. bis hin zu kompletten ECM-Lösungen aus der Cloud, wie sie auch deutsche Anbieter, z.B. Amagno, d.velop, Docuware und andere, anbieten. Die Kriterien, Auswahlverfahren und Entscheidungsvorlagen sehen hier gänzlich anders aus als bei einer herkömmlichen On-Premises-Installation. Viele der Lösungen haben sich auch geradezu in die Unternehmen „eingeschlichen“, begannen klein als Dokumentenaustausch-Lösungen und entwickelten sich dann zu kompletten Collaboration- und Dokumentenmanagementlösungen. Gerade Microsoft mit Teams und Sharepoint hat hier nicht nur eine beherrschende Position eingenommen sondern zugleich die gesamte Branche beflügelt. Neue Technologien wie Maschinenlernen, Robotic Process Automation und Künstliche Intelligenz fördern den Einsatz von SaaS-Lösungen, da diese regelmäßig ergänzt und ständig aktuell gehalten werden. Anstelle begründeter Produktauswahlentscheidungen „rutscht“ man hier eher einfach in das Thema Informationsmanagement hinein – und hat dann mit den Problemen von Informationsbeherrschung, Organisation, Geschäftsprozessen, Akzeptanz und Change Management zu kämpfen. Bei der Produktauswahl im Rahmen von Neubeschaffungen wird heute Cloud immer als Alternative zu On-Premises-Lösungen mit betrachtet, wenn nicht von vornherein bevorzugt.

Das wichtigste Argument gegen die Produktauswahl ist jedoch das Vorhandensein von älteren Lösungen im Unternehmen. Es gibt für Informationsmanagement quasi keine „Grüne Wiese“ mehr. Archivierung, DMS, ECM, Content Services … all diese Technologien gibt es seit über 30 Jahren. Viele Unternehmen befinden sich bereits in der dritten Generation solcher Lösungen und haben zahllose Terabyte, Petabyte, Exabyte an Information bereits in den Systemen gespeichert. Die Systeme werden seit Jahren oder gar seit Jahrzehnten genutzt. In Groß-Unternehmen kommt hinzu, dass es nicht nur eine Lösung gibt, sondern dass sich über die Zeit in verschiedenen Abteilungen, verschiedenen Standorte, für unterschiedliche Zwecke auch unterschiedliche Systeme etabliert haben. So gibt es nicht selten in internationalen Konzernen mehr als 20 verschiedene Informationsmanagement-Systeme. Hier ist eine Produktauswahl immer zugleich eine Produktabwahl.

Die Produktabwahl kommt bei der Ablösung einer bestehenden Lösung zu tragen. Auch wenn das neue System vom gleichen Anbieter ist, spielt die Überführung von vorhandenen Daten und Funktionalität, die Migration, hier eine entscheidende Rolle. Migration von Beständen ist dadurch zu einem Grundbaustein von Produktauswahlverfahren geworden.

Noch interessanter wird es, wenn gar kein neues Produkt ausgewählt werden soll, sondern nur eine der vorhandenen, im internen Wettbewerb stehen Lösungen, weiterbetrieben werden soll. Aus IT-strategischen wie auch aus Kosten- und Betriebs-Gründen ist bei nahezu allen Unternehmen eine Konsolidierung der IT und der Systeme bei allen Initiativen zu Modernisierung und Digitalisierung ein Thema. Wo es mehrere Archivierungs-, Content-Management-, Prozess- und Dokumentenmanagement-Lösungen bereits gibt, kommen diese auf den Prüfstand. Dieser schließt betrachtet dann nicht nur die Systeme im Vergleich, der Wichtigkeit und deren Ablösbarkeit, sondern auch die strategischen Plattformen beim ERP (z.B. SAP, Oracle, u.a.) und bei der Office-Collaboration (Microsoft, Google, u.a.), ob deren Funktionalität ausreichend ist. Hinzukommt der Vergleich mit den Cloud-Angeboten. Erst dann beginnen die Überlegungen, ein gänzlich neues ECM- oder ähnliches Produkt anzuschaffen. Dieser Prozess der Produktauswahl läuft nach anderen Regeln ab als eine Ausschreibung mit Kriterienkatalog. In Entscheidungsvorlagen werden strategische, betriebliche und wirtschaftliche Überlegungen dargestellt. Vielfach kommt es nach einer solchen Entscheidungsvorlage nicht mehr zu einer Ausschreibung für ein neues Produkt sondern nur für den Einkauf einer Migrationsdienstleistung. Und es werden anschließend der eine oder andere Wartungsvertrag gekündigt.

Für alle Produktauswahl- und Produktabwahlverfahren wird die reine Funktionalität der Lösungen immer unwichtiger, da die meisten Produkte inzwischen auf einer ähnlichen Höhe stehen und vergleichbar sind.
Drei funktionale Aspekte spielen weiterhin entscheidende Rollen:
Anwenderfreundlichkeit & Ergonomie,
einfache Administrier-, Pflegbar- & Konfigurierbarkeit, und
standardisierte Integrations- & Anbindungsmöglichkeit.
Damit verschieben sich auch die Kriterien bei der Produktauswahl. Alles was Standardfunktionalität ist und alle haben, wird nicht mehr abgefragt. Man beschränkt sich auf die wenigen spezifischen Anforderungen unter Berücksichtigung von Nutzungs- und Betriebsmodellen. Auch dies führt zu einer Veränderung der Produktauswahlverfahren wie auch der Produktabwahlverfahren. Da viele Lösungen aber „einfach da“ sind, im ERP oder in der Collaboration direkt enthalten oder einfach als zusätzliche Speicherfunktionalität konfiguriert vorhanden sind, wird selbst nach diesen Kriterien kaum noch entschieden. ECM, Archivierung, IIM oder wie auch immer wir dieses „Kind“ nennen, ist längst ein „Nebenkriegsschauplatz“ der IT, verschwindet als Dienste im Untergrund der Systeme, ist selbst immer weniger sichtbar.

Dies führt zu einer Daseinskrise nicht nur der Anbieter von Information-Management-Software sondern bedingt auch Veränderungen bei den Leistungsangeboten von Beratern und Systemintegratoren. Die Produktauswahl wird weniger wichtig, die Produktabwahl gewinnt an Bedeutung. Aber letztlich müssen die organisatorischen Maßnahmen, das Change Management, die Prozesse und die Arbeit mit digitalen Medien im Vordergrund stehen – bis denn ML, Automation, Analytics, Robotics und AI auch hier den Menschen als Maßstab für Lösungen des Informationsmanagements ablösen. Dann wird es wieder neue Kriterien für die Produktauswahl geben – wenn sich die Systeme dann nicht selbst auswählen.

Dr. Ulrich Kampffmeyer

Curriculum auf Wikipedia https://de.wikipedia.org/wiki/Ulrich_Kampffmeyer

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