Aufbruch zu neuen Ufern

11. November 2018 08:24 Uhr  |  Dr. Ulrich Kampffmeyer  |  Permalink


Die Veränderungen im Markt der Anbieter von „ECM“-Produkten sind schon augenfällig. Eine Reihe der großen Anbieter wie HPE, Oracle oder IBM haben sich defacto vom klassischen ECM verabschiedet. Ein wenig Funktionalität hat sich in neue Produktlinien rund um Cloud-Angebote gerettet. Workflow, Collaboration, Management lebender Dokumente, ja selbst das Scannen in Gestalt von mobilen Apps ist Allgemeingut geworden und wird in modernere Anwendungen integriert. Zurück bleibt das Brot-und-Butter-Geschäft rund um die Erfüllung rechtlicher und regulativer Anforderungen – Archivierung, Records Management und E-Discovery. Während letztliche Anwendungen in Europa bisher kaum eine Rolle spielen, sind die beiden Themen Archivierung und Records Management weiterhin notwendig, auch wenn sich ein Gähnen ob der Langweiligkeit der Themen bei manchem breitgemacht hat. Aber selbst Microsoft erkennt die Notwendigkeit und bietet Records-Management-Funktionalität in seinen Office365- und Sharepoint-Produktlinien an. Dagegen wird das Thema Archivierung gern den Speichersystemen überlassen, die aber gegenüber den Anforderungen des Dokumenten-Lebenszyklus und der geordneten Verwaltung und Erschließung elektronischer Archive eher hilflos gegenüber stehen. Aber selbst bei den Archivspeichern tut sich Neues durch Blockchain. Das Verfahren erlaubt in der Cloud aber auch in einfacheren Inhouse-Verfahren die Absicherung der Unveränderbarkeit und Nachvollziehbarkeit ohne herkömmliche WORM-Verfahren. Das Metadaten-orientierte Referenz-Datenbankmodell der meisten Archivsystemanbieter ist dadurch unter Druck. Beim Records Management interessiert dies weniger, da es von der Speicherung der Objekte unabhängig sich auf die reine Verwaltung konzentriert. Andere Schlüsselkomponenten von ECM Enterprise Content Management sind längst schon integriert oder haben sich, wie z.B. BPM Business Process Management oder Output Management, selbständig gemacht und stellen eigenständige Disziplinen dar. Collaboration hat sich ebenfalls sehr frühzeitig zu einer eigenen Disziplin entwickelt, getrieben durch Cloud-Entwicklungen, Office- und Kommunikationsumgebungen und File-Sharing. Viel bleibt da nicht von den ursprünglichen Kernkomponenten von ECM. International gesehen und unter dem Gesichtspunkt der großen Softwareanbieter ist so das ursprüngliche Thema Enterprise Content Management, mit großen geschlossenen Suiten und eigenen Clients wirklich etwas „tot“, wobei „etwas“ meint, so richtig tot ist ECM auch dort nicht. Es läuft langsam aus und wird von anderen Entwicklungen aufgesogen. So gesehen hat Gartner Recht, wenn sie sagen, dass eine neue Ausrichtung der Branche erforderlich ist – auch wenn „Content Services“ als Begriffsbildung nicht besser ist, sondern die generellen Probleme von ECM noch verschärft.

Betrachtet man in diesem Licht die mittelständische Anbieter-Szene in Deutschland, dann zeigen sich einige grundsätzliche Trends, die teilweise mit den internationalen übereinstimmen, andererseits aber auch auf spezielle deutsche Anforderungen eingehen. 

Zum ersten geht der Trend weg von leeren Produkthüllen zu vorgefertigten Lösungen. Dies können einmal generelle Lösungen sein wie z.B. Rechnungseingangsverarbeitung, elektronische Akte für HR, Archivierung steuerrelevanter Daten oder E-Mail-Management. Neben diesen generischen Lösungen gibt es aber immer mehr Branchen-spezifische. Dies zeigt sich besonders im derzeit aktivsten Segment, der öffentlichen Verwaltung in Deutschland. Endlich kommt das Thema eAkte in Fahrt, elektronische Rechnungen müssen in einem einheitlichen Standardformat ab Ende des Jahres abgeliefert werden, eIDAS krempelt das Thema elektronische Signatur um, die Schriftform ist auf dem Rückzug in vielen Bereichen und .. .es gibt viel Geld in diesem und den nächsten Jahren. Ähnliche Standard-Lösungen gibt es aber auch für andere Branchen wie z.B. das Bauwesen, Finanzbranche besonders im Umfeld Fintech und eigentlich allen anderen. Die Kunden haben den Vorteil, dass sich solche Musterlösungen einfacher anpassen und deutlich schneller einführen lassen. Auch sinkt der Aufwand für das Customizing und die Weiterpflege der Lösung drastisch. Hier ist auch der Gartner-Ansatz von Content Services Applications zu positionieren.

Zum zweiten werden andere Trends aus der ITK IT- &  Kommunikations-Technologie adaptiert. Dies machten bereits alle im vergangenen Jahrtausend, aber deutlich an Fahrt gewann dies erst mit SMAC, Social, Mobile, Analytics & Cloud. Social hatte sich bei den ECM-Anbietern schnell überlebt, da bei Inhouse-Angeboten dies kaum eine Rolle spielte. Mobile und Cloud wurden dagegen zum absoluten Muss. Hier hakten sich aber viele Anbieter fest, da man mit den bisherigen Client-Server-Architekturen nicht einfach in die Cloud umsiedeln konnte, besonders wenn es um mehr.oder-weniger geschlossene SaaS-Lösungen ging. Analytics rückte erst langsam nach, ergänzte die statistischen und Protokoll-Funktionen und führte letztlich auch zu Stilblüten wie „Content Analytics“ – als ob Content nicht auch Daten wären. Die Geschwindigkeit und Dynamik im Markt erhöhte sich jedoch immer mehr. Neue Schlagworte wie Digitalisierung, Künstliche Intelligenz, IoT, Arbeitsplatz 4.0, Blockchain, Robotic Process Management, Intelligent Information Management  usw. übten immer mehr Druck auf die Anbieter aus. So sieht man in den nun angebotenen neuen Produktlinien neben Mobile & Cloud auch andere Spezialthemen im Fokus: Atomisierung von Inhalten um sie in neuen Wissensumgebungen bereitzustellen, Automatisierung in allen Prozessen, Zusammenführen der Lösungen für strukturierte und unstrukturierte Informationsobjekte, automatische Klassifikation im Records Management, selbstgenerierende elektronische Akten, Content Analytics, künstliche Intelligenz bei der Informationserschließung, Scannen mit Mobiltelephonen, bruchlose Integration in andere Anwendungen und Umgebungen, Auflösung von Suiten in Services und Micro-Services, Dokumenten-orientierte Apps, Fernsignaturen auf Mobilgeräten, Sprachsteuerung, automatische Übersetzung, multilinguale Informationserschließung, usw. usw. Hier spielen immer mehr Künstliche Intelligenz und Automatisierung die entscheidenden Rollen. Nicht jeder Anbieter hat dabei alles selbst im Portfolio sondern man setzt unterschiedliche Schwerpunkte. Herkömmliche ECM-Standardfunktionen treten dabei in den Hintergrund, sie gelten als Commodity.

Drittens ist immer mehr zu beobachten, dass die bisherigen ECM-Lösungen in andere Systeme – tatsächlich – so integriert werden, dass sie für den Endanwender kaum mehr sichtbar sind. Hier trifft die uralte Grundidee von ECM Enterprise Content Management zu, dass ECM Dienste in einer Middleware sind um einen übergreifenden Zugriff auf alle Informationen zu ermöglichen. Es hätte also der Content-Services-Idee garnicht bedurft. Dennoch wird das Thema aufgegriffen, denn ohne Integration in die führenden Anwendungen verkauft sich ein selbständiges ECMS schlecht. Die entsprechenden Standardschnittstellen hat inzwischen jeder Anbieter – neben SAP Archivlink & Co. solche zu Outlook, Office365 und Sharepoint, zu Navision, Oracle Financial und Lexware, natürlich für CAD Autocad und CRM Salesforce, für Box, Dropbox & Co., und, und und. Schnittstellen, Konfiguratoren und Verwaltungswerkzeuge bestimmen heute die Produktqualität weil die Anwenderfunktionalität aus den ECM-Tagen absolut vergleichbar geworden ist. Je mehr komfortabel die teil-automatisierte Einrichtung und Verbindung mit anderen Programmen ist, je weiter die Selbstdokumentation der Lösungen und Schnittstellen fortschreitet und je flexibler die Systeme bei Updates und Re-Konfiguration sind, desto besser. Heute müssen beim Thema Integration sowohl Inhouse, Hybrid Inhouse-Cloud sowie verschiedene Typen von Cloud-Modellen von SaaS über PaaS bis IaaS abgedeckt werden. Die Schnittstellenfrage wird gerade bei letzteren entscheidend, da es hier noch an Standardisierung mangelt.

Die vierte Entwicklungslinie ist typisch deutsch, oder besser gesagt auf regionale Märkte wie Deutschland, Schweiz, Österreich, die Niederlande etc. beschränkt. Es geht um die Themen Information Governance, Records Management, Aufbewahrung, Archivierung etc., sprich, die Erfüllung von regulativen und rechtlichen Compliance-Anforderungen. Dies ist und bleibt eines der ECM-Brot-und-Butter-Geschäfte mit langjähriger Kundenbindung allein auf Grund der Mengen an Daten und Dokumenten in diesen Lösungen. Die jeweils nationalen Vorgaben für Aufbewahrungsfristen und Aufbewahrungsformen helfen hier Marktsegmente abzugrenzen. Aber elektronische Archivierung gilt inzwischen als „langweilig“, dabei ändert sich auch hier sehr viel. Gleichstellung der Speicherorte in Europa fördert auch Cloud-Angebote, Blockchain bietet Alternativen zu bisherigen Architekturansätzen, Neuerschließung vorhandener Informationsbestände mit KI und Analytics schafft neues Wissen, und Migration von einer Lösung in eine andere ist ein lukratives Dauerthema der Branche. Gerade der DSM Digital Single Market der EU bietet hier viele Ansatzpunkte, da von vielen Direktiven nicht nur die öffentliche Verwaltung betroffen ist, sondern auch die Privatwirtschaft in Europa. So wird es auch für die Anbieter einfacher, Standardlösungen zu konzipieren, die Europa-weit eingesetzt werden können. Beispiele sind hier GPDR, eIDAS, TSD, eCommerce, eInvoice und andere. Der Trend wird in Zukunft von nationalen zu europäischen Lösungen gehen.

Bildet man nun diese Trends (und einige andere) auf die mittelständischen Anbieter aus Deutschland ab, ergibt ein fazettiertes Bild vieler Unternehmen. In kaum einem anderen Land Europas tummeln sich so viele „ECM“-Anbieter wie in Deutschland. Bevor man aber nun einige ausgewählte Anbieternamen nennt darf der Hinweis nicht fehlen, das Nennung oder Nicht-Nennung nichts mit der Eignung für bestimmte Anforderungen, ein bestimmtes technischen Umfeld oder die Produktqualität bedeutet. Details zu den Unternehmen und ihren Produkten kann man den gängigen Marktstudien wie der des BITKOM entnehmen. 

Als führendes Unternehmen darf man sicher die SER-Gruppe ansehen, die auch in internationalen Studien von Forrester, Gartner und anderen sehr gut positioniert ist. Die meisten Projekte werden im Raum DACH mit eigenen Mitarbeitern durchgeführt. Technisch ist es nicht immer vorderste Front, aber bewährt. SER setzt weiterhin auf Enterprise Content Management als Botschaft für das Produkt DOXIS. Dahinter gibt es ein Feld von mehreren mittelständischen Anbietern, wo mal der eine oder der andere vorn ist. Internationales Gewicht hat hier auf jeden Fall Docuware, die auch in den USA sehr stark sind. Aktuelles Trendthema bei Docuware sind sogenannte „Kinetic Solutions“, die letztlich Anwendungen auf dem ECM-Baukasten darstellen.
d.velop und ELO Office liegen ziemlich gleich auf, wobei d.velop in Punkto Innovation weiter vorn ist. d.velop sieht die Zukunft im Thema Digitalisierung, das nachgeordnet Akten, Dokumentenmanagement und andere klassische Themen umgreift. Bei ELO treten auch die Anwendungslösungen unter dem Motto „Die Zukunft ist digital“ in den Vordergrund.
Auch Ceyoniq Technology wollen wir noch zu den deutschstämmigen rechnen, da das Unternehmen – obwohl zu Kyocera gehörend – immer noch ein eigenständiges Leben führt. Unter dem Slogan „Go digital“ werden verstärkt auch Lösungen für die öffentliche Verwaltung angedient. Zielrichtung ist hier inzwischen eher Information Management als ECM. Übrigens – vergleicht man die „Reiter“ der Navigation der Anbieter, dann sieht alles ziemlich ähnlich aus.
Easy Software hat einen neuen Anlauf genommen und präsentiert sich jetzt als Anbieter für die Digitalisierung und Automatisierung von Geschäftsprozessen. Themen sind hier Mobilität und Cloud im Umfeld von Enterprise Content Management. Optimal Systems ist ebenfalls ein Anbieter, der mit Tochtergesellschaften unterschiedliche Aspekte des Themas Content Services (Gartner) abdeckt. Schlagworte sind Informationsmanagement, Unternehmenswissen, Digital Workplace (Bitkom) und weitere. ECM ist hier inzwischen abgemeldet. Bei Windream ist dagegen weiterhin ECM das herausragende Thema. Aktualisierungsbedarf ergibt sich auch in Hinblick auf die längst eingemottete ECMjetzt!-Initiative und das Motto „Managing Documents“. Diese acht Anbieter gelten seit Jahren als die Führungsriege in Deutschland.
Aber es gibt noch deutlich mehr Anbieter mit eigenständigen Softwareprodukten. Ebenso wie Windream arbeitet auch DM Dokumenten Management am Anschluss an die oberen Ränge. Auch hier wird auf deutsche Begrifflichkeit wie Dokumentenmanagement gesetzt und eher der Mittelstand adressiert. Der Unternehmensname tritt hinter dem Produktnamen LoboDMS in den Hintergrund. Weitere Anbieter suchen ebenfalls den Aufstieg oder wenigstens den Anschluss. Hierzu gehören Amagno, IQDOQ, MachECOdms, COI, Allgeier, Habel, bitfarmMaterna, Nexus-MarabuT-Systems, agorumMacros Reply und ein paar Dutzend mehr (wer sich hier nicht genannt findet, kann ja einen Kommentar posten 🙂 ). Bei den letzteren Anbietern gibt es deutliche Spezialisierungen, z.B. auf die öffentliche Verwaltung (Mach), auf Maschinenbau (COI), auf E-Health (Marabu) und andere. Nimmt man alle Anbieter zusammen, einschließlich derjenigen, die ihre ECM-Funktionalität in Anwendungen integriert haben oder als Integrator eigene Aufsatz- oder Zusatzprodukte auf Basis von ECM geschaffen haben, ist man bei gut 100 in Deutschland. Da sind die internationalen Anbieter noch nicht mitgerechnet.
Auch aus diesem Grund ist in Deutschland das Auswahlverfahren von Lösungen immer noch ein wichtiges Thema. Und eine der Fragen ist dabei, wessen Produkt wird lange genug am Markt sein um die besonderen Anforderungen von Dokumentenmanagement, Records-Management und elektronischer Archivierung zu erfüllen. Immer wieder wurden auch mittelständische Anbieter von deutschen Marktbegleiter aber auch von Anbietern aus dem Ausland übernommen, die sich einen einfacheren Zugang zu deutschen Markt versprechen. nicht zuletzt um mit qualifiziertem Personal zu starten, denn da mangelt es bei allen. Und der deutsche Markt für „ECM-ähnliche“ Lösungen ist aktuell einer der interessantesten für Investoren. Unser E-Government ist rückständig und es wird erst jetzt in großem Maßstab investiert. Der deutschen Wirtschaft geht es gut und ECM ist eines der Kernthemen bei der Digitalisierung – wer seine Informationen nicht in Ordnung hat, braucht über Digitalisierung erst gar nicht nachzudenken. Und die Fragmentierung des Marktes mit vielen kleineren und mittleren Anbietern macht das Herauspicken für Investoren interessant. Nach der Welle der großen Übernahmen wie Lexmark oder aktuell Nuance Digital Imaging Solutions, dem Zerlegen ganzer Bereiche wie bei HPE, kommt nun wieder ein Vorstoss bei den mittleren und kleineren Happen sowie den Branchen-Spezialisten und bestimmte vertikale Marktsegmente. 
Was fast allen gemeinsam ist, ist die gewisse „Müdigkeit“ in Bezug auf den Begriff ECM Enterprise Content Management, ohne dass sich jedoch eine von allen mitgetragene begriffliche Alternative findet. Es gibt keine „Oriflamme“ mehr unter der sich eine Branche sammeln könnte. So kommt zu Fragmentierung und Fazettierung der Anbieterlandschaft eine zunehmende Evaneszenz als Branche hinzu. Und das leider in Zeiten, wo Information Management als übergreifende Klammer für alle Informationen in Unternehmen und Verwaltungen immer wichtiger wird. 

Wo ist dann denn eigentlich der eingangs beschworene Aufbruch? 
Er findet bei denjenigen Anbietern statt, die das Thema ECM hinter sich lassen und für neue Funktionalität, Anforderungen und Themen öffnen. Man wird sicher eine ganze Weile noch mit ECM sein Geschäft machen können, jedoch wandert dieses in die Infrastruktur. Langfrist gewinnen werden diejenigen, die die Herausforderungen von Mobile, KI, Cloud, Automatisierung, IoT und deren anderen aktuellen Entwicklungen antizipieren, rechtzeitig adaptieren und neue Lösungen jenseits der alten Konzepte rund ums traditionelle Dokument schaffen. Einige der oben aufgeführten Anbieter sind da schon gut unterwegs.

 

Dr. Ulrich Kampffmeyer

Curriculum auf Wikipedia https://de.wikipedia.org/wiki/Ulrich_Kampffmeyer

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